Studia Osteoarchaeologica 3
Abrasio et attrition dentium
Der Zahnabschliff und seine Facetten
aus osteoarchäologischer Sicht
Göttingen 2014. 193 Seiten
Summary see below
Der Verlust von Zahnsubstanz – umgangssprachlich umschrieben mit dem Begriff Abrasion – zählt zu den natürlichen Verschleißerscheinungen und ist keineswegs primär als pathologisch anzusehen. Wenngleich Abrasion eigentlich nach einigen Monaten der Beiß- bzw. Kaufunktion an allen Zähnen fassbar wird, fällt seine wissenschaftliche Betrachtung bei der normalen Untersuchung menschlicher Skelettreste eher stiefmütterlich aus. Die Ätiologie trägt zu einer begrifflichen Vielfalt bei: Abrasion, Attrition, Erosion/Corrosion, Abfraktion etc. Zudem erschwert die oftmals subjektive Einordnung in eines der vielen Klassifikationsschemata die Vergleichbarkeit der Befunde. Auch die Befundungsgrundlage – Individuen-/Gebiss- versa summierten Zahnbefunden – führt zu einer Unterteilung der Betrachtung.
Im Vordergrund der Studie steht der paläostomatologische wie auch der klinische Befund an sich, den es nachvollziehbar auszuwerten gilt. Zugleich soll ein kasuistischer Ansatz vermieden und die kulturgeschichtlich aussagekräftigeren epidemiologischen Aspekte bevorzugt werden. Für eine vergleichende Betrachtung werden 262 Untersuchungen unterschiedlicher Qualität aus der Literatur herangezogen. Der Mindestbeobachtungsumfang von zehn Individuen bzw. 100 Zähnen bedingt eine Eingrenzung auf den Zeitraum ab 9000 v.Chr. Diese beiden unterschiedlichen Erfassungsgrundlagen bedingen eine durchgängige Zweiteilung der Betrachtung der verschiedenen Aspekte. Das statistisch signifikante Verhältnis zwischen beiden Beobachtungsgruppen erlaubt ferner eine Synopsis der Befunde. Bei der regionalen Herkunft der Serien prägen die nord- und mitteleuropäischen Stichproben das Bild. Allenfalls für den mediterranen Bereich liegt noch eine hinlänglich große Bearbeitungsmenge vor. Im diachronen, auf Jahrhunderte bezogenen Überblick wird ein aus statistischer Sicht hinlänglich großer Beobachtungsumfang oftmals erst ab dem Neolithikum erreicht. In Hinblick auf die Wirtschaftsweise überwiegen Bevölkerungen mit produzierender Wirtschaftsweise.Der relative Anteil (Frequenz) des Zahnabschliffs beträgt im Mittel 89,6 Prozent. Die überwiegende Zahl der Stichproben findet sich oberhalb der Marke von 75 Prozent. Bei 17 Prozent der Serien sind alle Individuen bzw. Zähne betroffen. Zahnabschliff stellt mithin eine weitverbreitete Erscheinung dar. Im diachronen Überblick der Frequenzwerte verhindern zwei Phasen der Verschlechterung eine signifikante Entwicklung zur Verbesserung der Abschliffsrate. Auf der Grundlage eines fünfstufigen Klassifikationsschemas der Intensität der Abrasion/Attrition variieren die Serienbefunde zwischen 1,9 und 3,5 bzw. 3,8 Belastungspunkten (BP). Im Mittel werden 2,85 BP (Individuen) bzw. 2,70 BP (Zähne) erreicht. Auch wenn Zahnabschliff eine häufige Erscheinung am Gebiss ist, sprechen diese Zahlen nur für eine schwache bis allenfalls mittlere Ausformung der Abrasion/Attrition. Auch hier schmälern zwischenzeitliche Phasen höherer Belastung den Eindruck einer diachronen Verbesserung der Intensität.
Aus statistischer Sicht besteht kein signifikanter Zusammenhang zwischen Frequenz und Intensität. Bei der Suche nach den Ursachen für diesen unerwarteten Befund werden durchschnittliches wie individuelles Sterbealter, intravitaler Zahnverlust, Karies, Wirtschaftsweise, Zahnart und Geschlecht jeweils in Beziehung zu den Abrasionsbefunden gesetzt. Wiederum ist ein signifikantes Abhängigkeitsverhältnis im Bereich der hinlänglich besetzten Zeiträume nicht zu ermitteln. Lediglich im diachronen Überblick bedingt der Anstieg der Kariesbelastung (inkl. intravitalem Zahnverlust) eine Verminderung der Intensität des Zahnabschliffs. Dieser Befund bestätigt sich bei direkter Betrachtung der Serienbefunde nicht. Sind im Mittel die Bevölkerungen mit produzierender Wirtschaftsweise am wenigsten (2,75 BP) und die Wildbeutergruppen am stärksten (3,06 BP) betroffen, so ist der jeweilige Variationsbereich der Stichprobenbefunde selbst bei Berücksichtigung des mittleren Sterbealters auffällig groß.
Höchstsignifikant ist das Verhältnis zwischen Abschliffsintensität und individuellem Alter. Dieser in der Literatur mehrfach genannte Befund kann an dieser Stelle auf breiter Materialbasis erstmals statistisch abgesichert werden. Zugleich wird nachgewiesen, dass die Zunahme der Intensität des Zahnabschliffs nicht gleichförmig auf die Altersklassen verteilt ist, sondern es mit zunehmendem Alter zu immer geringeren Zuwachsraten kommt. Am häufigsten weisen die ersten Molaren Abschliffsspuren auf. Die höchste Intensität des Zahnabschliffs findet sich bei den ersten Molaren. Ansonsten nimmt der relative Anteil der Abrasion/Attrition von den mittleren Schneidezähnen der Zahnreihe folgend bis zu den dritten Molaren hin ab. Ähnlich verhält es sich mit der Intensität des Zahnabschliffs, wenngleich hier erste Molaren und mittlere Schneidezähne fast identische Werte aufweisen. Dieses wird als Beleg für die beiden Hauptfunktionen des Gebisses – Abbeißen und Zermahlen – anzusehen sein und bleibt in der diachronen Entwicklung unverändert bestehen. Die Zähne der Männer weisen von vermeintlich populationsspezifischen Ausnahmen abgesehen höhere Werte des relativen Anteils und der Intensität des Zahnabschliffs auf. Hingegen sind unter Berücksichtigung des Lebensalters die jährlichen Zuwachsraten der Frequenz und der Intensität bei beiden Geschlechtern annähernd gleich hoch.
Die Zähne der ersten Dentition weisen eine deutlich geringere Abschliffsfrequenz und -intensität auf als jene des Erwachsenengebisses. Dies ist durch den kürzeren Funktionszeitraum des sog. Milchgebisses zu erklären. Auffällig ist die signifikante Verbesserung beider Betrachtungsgrößen ab der Mitte des ersten nachchristlichen Jahrtausends. – Neben der physiologischen Abrasion/Attrition kommt es noch zu bewusst herbeigeführten oder durch tägliche Gewohnheiten bedingten Verlust der Zahnsubstanz. Auf verschiedene Aspekte wird insbesondere im epidemiologischen Kontext hingewiesen. Insgesamt gesehen bildet sich ein vielfältiges Bild des Zahnabschliffs. Auch wenn der Hauptverursacher der Abrasion nicht ermittelt werden kann, so wird der Nahrung und ihrer Auf-/zubereitung eine nicht unwesentliche Rolle zuzubilligen sein, wenngleich individuelle Eigenarten wie auch populationsspezifische Ausformungen eine große Variabilität der Befunde bedingen.
Abrasio et Attritio Dentium
The loss of teeth substance and its facets from osteoarchaeological point of view
Summary
The loss of tooth substance – colloquially often referred to as abrasion – is one of natural wear and tear and is not primarily to be regarded as pathological. Although abrasion is tangible after a few months of biting or chewing on any given tooth, its scientific consideration in the normal study of human skeletal remains has been rather neglected. The etiology contributes to conceptual diversity: abrasion, attrition, erosion/corrosion, abfraction etc. In addition, the often subjective way results are ordered into one of the many classification schemes makes comparing findings more difficult. The basis for the results – individuals’ denture compared to the overall dental findings – leads to a subdivision in the analysis.
The focus of the study is both on the paleostomatological findings as well as the clinical findings as such, and these require reproducible evaluation. At the same time a casuistic approach should be avoided and more meaningful cultural historical and epidemiological aspects should be given precedence. 262 series from the literature of varying quality are used for a comparative analysis. The minimum observation volume of ten individuals or 100 teeth leads to a limitation to the period from 9000 BC onwards. The two different data sets require a complete separation in the analysis of the various aspects. The statistically significant relationship between the two observation groups also allows a synopsis of the findings. At the regional origin of the various series, the northern and central European samples represent the majority of samples. Only the Mediterranean series also give a sufficiently large quantity. For a diachronic analysis covering centuries, it is only from the Neolithic period onwards that a statistically sufficiently large observational scope is available. In terms of the economy, populations with a production economy predominate.
The mean of the relative proportion (frequency) of dental abrasion/attrition is 89.6 percent. The majority of the samples shows values above 75 percent. In 17 percent of the series all individuals or teeth are affected. Abrasion represents a widespread phenomenon. In terms of the diachronic overview, two phases of deterioration prevent a significant improvement in the frequency values. On the basis of a five-stage classification scheme, the intensity of the abrasion/attrition varies from 1.9 to 3.5 or 3.8 points (BP). A mean value of 2.85 BP (for individuals) or 2.70 BP (for teeth) can be observed. Although dental wear is a frequent occurrence, these numbers speak only for a weak to, at best, average intensity of abrasion/attrition. Again, intermediate phases of more marked abrasion lessen the impression of a diachronic improvement in the intensity.
From a statistical perspective, there is no significant relationship between frequency and intensity. In the search for the causes of this unexpected finding a lot of parameters – such as average individual age at death, intravital tooth loss, dental caries, economy, tooth type and gender – are examined in relation to the abrasion. None of these phenomena show a significant relationship to the findings concerning abrasion in the range of periods with sufficient samples available. It is only in the diachronic overview that the increase in caries rate (incl. intravital tooth loss) causes a reduction in the intensity of abrasion. This finding cannot confirmed by direct observation of the series findings. On average, populations with producing economy are affected least (2.75 BP) while the hunter-gatherer groups are affected most (3.06 BP). However, the variation range of the sample results is strikingly large even taking into account the average age of death.
The relationship between intensity of abrasion and individual age is highly significant. This is mentioned several times in the literature, but can be confirmed in this study for the first time statistically using a broad base of material. At the same time it is shown that the increase in the intensity of the abrasion is not uniformly distributed over age. The higher the age, the lower the growth rate observed. It is the first molars that most often show traces of wear. The highest intensity of abrasion is also found in the first molars. Otherwise, the relative proportion of wear decreases from the middle incisors to the third molars following the order of tooth positions. This is also observed with the intensity of wear, although here the first molars and central incisors have almost identical values. This is a testament to the two main functions of the dentition – biting and grinding – and remains unchanged in the diachronic development. The teeth of the men bring – with exception of some specific populations – higher values for the relative amount and the intensity of abrasion. But when age is taken into account, the annual growth rates of frequency and intensity are almost identical in both sexes.
The teeth of the first dentition show much lower frequency and intensity than those of the adult dentition. This can be explained by the shorter period of use. Remarkable is the significant improvement of both parameters from the middle of the first millennium AD. – Besides the physiological abrasion/attrition, loss of tooth substance is seen which is either deliberately induced or caused by daily habits. Various aspects are discussed in an epidemiological context. Overall, the picture attained by examining the different forms of wear is a very diverse one. Although the main cause of the abrasion cannot be determined, the food itself and its preparation play a not insignificant role, though individual idiosyncrasies as well population-specific formations mean a large variability in the findings.
Keywords: abrasion, attrition, dental mutilation, tooth ablation, microwear analysis